Jacob Levy Moreno

Überblick

Jakob Levy Moreno.
Porträtphoto mit Büste von Ivan Valtchev.
(Countway Library of Medicine, Boston; Nachlaß Moreno)

Briefkopf von Jakob Levy Moreno mit Überschrift “Stegreiftheater”,
Signet, Adressen Bad Vöslau und Wien, Angabe seiner Verlage (Sächsisches Staatsarchiv Leipzig)

Jakob Levy Moreno mietete 1923 und 1924 für seine Theaterexperimente einen Saal in den Räumen der Vereinigung Bildender Künstlerinnen Österreichs (VBKÖ) in der Maysedergasse, er nannte diesen Spielort Das Stegreiftheater: Programm und zugleich Experimentierbühne spontanen Spiels. Die Aktivisten des Stegreiftheaters waren Freunde und Bekannte Morenos, wie der Schriftsteller Georg Kulka, die Bildende Künstlerin und Schauspielerin Anna Höllering: Freundin von Elisabeth Bergner, Schülerin und geliebte Muse von Johannes Itten in dessen Wiener Zeit. Über Annas Vermittlung, die selbst im Kreis der VBKÖ aktiv war, kam Jakob Levy Moreno in die Maysedergasse. Im Zusammenhang mit der „Internationalen Ausstellung für neue Theatertechnik” im Herbst 1924 plante er die Eröffnung eines eigenen Stegreiftheaters, dessen Bühnen- und Raumarchitektur seinen Vorstellungen entsprechen sollte.

Levy Morenos Theaterexperimente reichen ins Jahr 1921 zurück, als er sich im „Wiener Komödienhaus” in einer happeningartigen, dadaistischen Performance als „Königsnarr” der Öffentlichkeit präsentierte. Sein künstlerisches Credo formulierte der Theaterrevolutionär bereits ab 1914 mit seiner poetischen „Einladung zu einer Begegnung”. Sein schriftstellerisches Oeuvre umfasst Lyrik, Prosa und Dialoge: expressiv, assoziativ und metaphernreich. Die von Levy Moreno 1918 herausgegebene Zeitschrift „Daimon” kann als einer der wichtigsten Beiträge zum österreichischen Expressionismus gesehen werden.

Jakob Levy Moreno begann seine medizinische Laufbahn im Wien der Jahrhundertwende als sozial engagierter und künstlerischer Mensch: Symbol und Ausdruck für das Verständnis von Morenos Lebenswerk, Inspirationsquelle seiner therapeutischen Lebensphilosophie weltweit bekannt als „Psychodrama” und „Soziometrie”. Unermüdlich kämpfte er für seine ästhetischen Ideen und Aktionen, deren ethische und die Gesellschaft stabilisierende Instanz er zeitlebens war.

Jacob Levy Moreno

Jakob Levy Moreno in Bad Vöslau, um 1920. In: J.L. Moreno,
Auszüge aus der Autobiographie. Herausgegeben von Jonathan D. Moreno. Köln 1995

Wohnhaus und Ordination von J.L. Moreno von 1918 bis 1925.
Maital 4, Bad Vöslau. Postkarte

Jakob Levy Moreno. Postkarte mit Porträtzeichnung.
(Symposium zum 100. Geburtstag von J.L. Moreno 19.-21. Mai 1989, Bad Vöslau)

Jakob Levy Moreno wurde am 18. Mai 1889 als Jacob Levi in Bukarest geboren. Sein Vater war Moreno Nissim Levy, sephardischer Jude und Kaufmann. Finanzielle Mißerfolge und später auch die Trennung von seiner bedeutend jüngeren Frau Pauline Iancu prägten Jakobs Kindheit. Erste religiöse Begegnungen finden in der sephardischen Bibelschule statt. Jacobs Mutter Pauline Iancu, ebenfalls sphardisch-jüdischer Abstammung, die nach dem frühen Tod ihres Vaters einige Jahre in einem katholischen Konvent in Bukarest verbrachte, vermittelt ihm die Wertschätzung für die Botschaft Jesu Christi. Zum Teil sehr verwoben mit der jüdischen und christlichen Überlieferung bildet der Volksglaube eine weitere Quelle für Morenos Religiosität. In einer Selbstdefinition wählt er den 16. Mai 1892, den Gedenktag der Vertreibung der Juden aus Spanien, als Tag seiner Geburt. Als Mentor einer neuen Zeit stilisierte er sich zu Gott-Vater und wird einige Jahre später den Namen seines Vaters Moreno annehmen, an dessen Stelle er tritt und gleichzeitig zum Inbegriff aller Väter dieser Welt wird. So nannte er sich auch selbst „Der Vater”.

Einen entscheidenden Lebensabschnitt verbringt Jakob Levy Moreno in Wien, wo er nach der Übersiedlung der Eltern seine Kindheit, Jugend und Studienzeit verlebt. Wien bleibt Zentrum seiner Aktivitäten – selbst als er 1918 Gemeindearzt in Bad Vöslau wird – , bis er schließlich 1925 nach Amerika emigriert. Über die frühen Wiener Jahre Morenos gibt es nur wenige gesicherte biographische Angaben, denn Morenos Berichte über seine Lebensgeschichte müssen kritisch hinterfragt werden und entsprechen bisweilen seinen Träumen und Wünschen, sind als „psychodramatische Wahrheit” zu verstehen. Nach der Scheidung der Eltern verläßt er die Mittelschule, holt aber die schriftliche und mündliche Abschlußprüfung nach, um als ordentlicher Hörer an der Universität Wien studieren zu können. 1911 beginnt er mit seinem Medizinstudium bei den Professoren Otto Pötzl, dem Nachfolger Julius Wagner-Jaureggs, und Julius Tandler, dem späteren Wiener Gesundheitsstadtrat. 1917 schließt er sein Medizinstudium erfolgreich ab. Vorlesungen aus Philosophie und der experimentellen Psychologie bei Adolf Stöhr, einem Schüler des Philosophen und Physikers Ernst Mach, ergänzen und erweitern sein Medizinstudium.

Die Hauptstadt der zerfallenden habsburgischen Monarchie und die nach dem ersten Weltkrieg errichtete Republik Österreich stehen im Leben Morenos für die Zeit der Entwicklung und experimentellen Erprobung seiner Visionen und konkreten Projekte, mit denen sich Moreno immer wieder in sozialen und politischen Randbereichen der Gesellschaft engagiert. Sie markieren gleichzeitig die Erfahrungskontexte, in denen die therapeutische Philosophie ihre Gestalt gewinnt und Praxisfelder findet. Exemplarisch sei auf Morenos Arbeit mit Prostituierten in Wien (1913/14) und seine Tätigkeit als Arzt im Flüchtlingslager Mitterndorf (1915-1917) während des ersten Weltkrieges hingewiesen. Als Ausländer rumänischer Herkunft und türkischer Staatsbürgerschaft war Moreno vom Kriegsdienst befreit, hatte aber auf privater Basis mit der Betreuung und Versorgung von Kriegsflüchtlingen begonnen.

Das Stegreiftheater

Stegreifpartitur “Die Bärte”.
In: J.L. Moreno, Das Stegreiftheater. Potsdam 1924

Das Theater von Morgen”. Kritik zu J.L. Morenos Stegreiftheater in der Maysedergasse.
In: Neuigkeits-Welt-Blatt, Wien vom 27. April 1924

Levy Morenos Stegreiftheater sollte das traditionelle, herkömmliche Theater sowohl in formaler wie auch in inhaltlicher Sicht revolutionieren. Mit seinem Theater der Spontanität schuf Moreno ein Forum, in dem aktuelle, tagespolitische Fragen, aber auch persönliche Probleme der Teilnehmer nicht nur erörtert, sondern unmittelbar verkörpert und erfahren wurden. Die Auswahl der Themen fand jeweils ad hoc statt. Im Mittelpunkt des Theaterkonzepts, das Moreno auch als methodisches, theatertheoretisches Arbeitsbuch für Stegreifspiele 1924 unter dem Titel Das Stegreiftheater publizierte, stehen die spontanen Aktionen und Reaktionen der Spieler und Mitspieler. Moreno: „Ich aber wünsche nicht das Theater des guten Gedächtnisses, der kreisförmigen Behaglichkeit, des Selbstvergessens. An Stelle der alten Dreiteilung tritt unsere Einheit: Es gibt keine Dichter, Schauspieler, Zuschauer mehr. Jeder ist Dichter, Schauspieler und Zuschauer in einer Person. Fort mit den Augen der Gaffer und den Ohren der Horcher. Unser Theater ist die Vereinigung aller Widersprüche, des Rausches, der Unwiederholbarkeit.”

Im improvisierten Theater in der Maysedergasse dienten wenige Versatzstücke zur Markierung und Beschreibung der imaginären Handlungsorte der Aktionen. Stühle wurden in einem Halbkreis aufgestellt, bisweilen skizzierte ein Schnellmaler die Situation, Stegreifzeichen, eine Art Partitur bestehend aus Zeit-, Raum- und Bewegungsabläufen, sollten Rhythmus, Ablauf und kollektives Spiel ermöglichen. Die Aktivisten des Stegreiftheaters waren Freunde Morenos, der Schriftsteller Georg Kulka, Schauspieler wie Peter Lorre und Hans Rodenberg, die Schauspielerin und Malerin Anna Höllering. In diesem Stegreiftheater in der Maysedergasse fand auch jenes denkwürdige Ereignis statt, das als Ursprung des therapeutischen Spiels, des Psychodramas gilt: Moreno forderte das junge Ehepaar Georg Kulka und Anna Höllering auf, ihre Eheprobleme darzustellen. Während des Agierens gelang es der jungen Frau, die Ursache ihrer Konflikte zu erkennen und mit einem Lachen eine befreiende Wirkung zu erzielen. Aus der Situation entstanden, erkannte Moreno die Ventilfunktion theatralen Spiels, das bei Konflikten und Problemstellungen als Art Lebens-Spiel, als Überlebens-Training eingesetzt werden kann. Eine nachhaltige Veränderung von Verhaltensmustern und Reaktionsmechanismen kann durch eine prozessorientierte Arbeit an den Problemstellungen erreicht werden.

Morenos Theaterexperimente fanden 1924 auch Beachtung in der zeitgenössischen Presse. Paul Stefan schreibt in der Stunde am 18. Mai 1924: „Junge Leute, unter der Leitung des Vaters spielen 2, 3 mal in der Woche in der Maysedergasse Nr. 2, der Zulauf ist groß. (…) Ich versichere, daß derlei amüsanter sein kann, als wohlkredidierte Klassik nebst Strindberg. Bei der Stegreifbühne des Vaters bewegt sich alles, ohne jede Brücke, vollkommen frei.” Im April 1924 hielt Jakob Levy Moreno einen Vortrag über Idee und Praxis des Stegreiftheater im Wiener Konzerthaus und plante im Zusammenhang mit der „Internationalen Ausstellung für neue Theatertechnik” im Herbst 1924 die Eröffnung eines Stegreiftheaters mit adäquater Bühnen- und Raumarchitektur. Dieses Vorhaben wurde jedoch nicht ausgeführt, nur als Skizze und Modell umgesetzt.

Anna Höllering im Stegreiftheater

Anna Höllering. Porträtphoto, 1928.
(Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek)

Die Schauspielerin und Malerin Anna Höllering, geboren 1895 in Wien, war in den Jahren 1923 und 1924 Aktivistin in Levy Morenos Stegreiftheater. Über Annas Vermittlung, die selbst in der Vereinigung bildende Künstlerinnen tätig war, kam Jakob Levy Moreno in die Maysedergasse. Anna Höllering, ihr Vater war Musiker, Generalsekretär der „Gesellschaft der Musikfreunde” und Direktor des Wiener Komödienhauses, studierte an der Wiener K.u.K. Akademie für Musik und darstellende Kunst. Eine ihrer Mitschülerinnen war Elisabeth Bergner, mit der sie eng befreundet war. Anna Höllering spielte im Wiener Komödienhaus, in der Wiener Volksbühne und in der Neuen Wiener Bühne. Zu den Schauspielern der Neuen Wiener Bühne zählten unter anderem Elisabeth Bergner, Alexander Moissi, Otto Tressler und Paul Wegener.

Die Schauspielerin Anna Höllering widmete sich aber auch der bildenden Kunst und nahm privaten Malunterricht bei Johannes Itten, mit dem sie eine enge Freundschaft verband. Im Jänner 1923 heiratete sie den expressionistischen Schriftsteller Georg Kulka, der seit 1920 im Verlag Eduard Strache in Wien arbeitete, Lyrik und Prosa publizierte, u.a. in Levy Morenos Zeitschrift Die Gefährten. Gemeinsam mit seiner Frau spielte Georg Kulka auch in Levy Morenos Stegreiftheater in der Maysedergasse. Insbesondere Annas spontan improvisierten Szenen über ihre Alltagsprobleme waren eine wichtige Erfahrung für Levy Moreno, der die befreiende Wirkung darstellenden Spiels erkannte. Als Georg Kulka sich 1929 das Leben nahm, ging Anna Höllering nach Berlin, wo sie u.a. 1930 im Theater am Schiffbauerdamm in Die letzte Nacht von Karl Kraus die Rolle einer Kriegsberichterstatterin spielte und jahrelang als Film-Cutterin tätig war. Anna Höllering starb 1987 in Natschbach (bei Neunkirchen in Niederösterreich).

Johannes Itten

Aus einem Brief von Johannes Itten an Anna Höllering vom 1. April 1919. In: Johannes Itten, Werke und Schriften. Herausgegeben von Willy Rotzler, Zürich 1972

Anna Höllering war eine der ersten Malschülerinnen von Johannes Itten in Wien. Zwischen Itten und Anna Höllering, die er auch die „Gotische” nannte, entwickelte sich eine sehr enge Freundschaft. Während seiner Wiener Lehrtätigkeit schrieb er ihr in den Jahren 1917 bis 1919 zahlreiche Briefe über seine Studien, seine Ausflüge und über seine Besuche am Semmering bei Alma Mahler-Gropius, seine Vortragskonzepte über malerische Form und Farbkomposition. Mehrere Gedichte und Federskizzen widmete Itten seiner Freundin Anna. In einem Brief vom 1. April 1919 schreibt Itten: „Meine liebste Anna, Mit lehmigen Händen schreibe ich Dir in später Nacht. Die letzten liebkosenden Bewegungen glitten über meine neue Plastik. Oh, ich hoffe, sie wird vor Deinen lieben Augen Gnade finden. Ich meine fast, dass sie nun die schönste von allen ist […].” Selbst nach seiner Berufung im Oktober 1919 an das Bauhaus in Weimar blieb der Briefkontakt einige Zeit aufrecht. Vorübergehend wurde im Frühjahr 1918 das intensive Verhältnis durch Ittens Beziehung zu Emmy Anbelang, einer Freundin Anna Höllerings, getrübt. Itten wollte Emmy Anbelang im Frühjahr 1919 heiraten, Emmy starb jedoch im Dezember 1918 an der Spanischen Grippe.

Durch Anna Höllering lernte Itten das Werk Adalbert Stifters kennen. Im Mai 1919 veranstaltete sie im Rahmen von Ittens Ausstellung in der „Freien Bewegung” eine Dichterlesung, bei der auch der Komponist Josef Matthias Hauer anwesend war. Hauer widmete Anna Höllering seine Klavierkomposition Nachklangstudien, op. 16. Über Ittens Vermittlung wurde Anna Höllering ans Weimarer Bauhaus für eine Dichterlesung eingeladen.

Elisabeth Bergner

Elisabeth Bergner. Jugendbildnis, um 1917. In: … Unsere schwarze Rose. Elisabeth Bergner. Eine Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum der Stadt Wien, 21. Jänner bis 21. März 1993. Wien 1993

Bereits als Gymnasiast verdient Levy Moreno eigenes Geld mit Nachhilfestunden. Elisabeth Bergner, Idol, Mythos, androgynes Schönheitsideal einer Schauspielerin, erinnert sich in ihrer Autobiographie an Levy Moreno, dem Hauslehrer der drei Bergner-Kinder. „Moreno hatte einen Christusbart. Er war groß und schlank und hatte ergreifend schöne blaue Augen, die immer lächelten, und dunkle Haare. Er macht nicht nur Schularbeiten mit uns. Er geht auch mit uns in den Augarten und in den Prater”, schreibt sie in ihrer Lebensbiographie Unordentliche Erinnerungen.

Zwischen 1907 und 1913 war Levy häufig mit einer Schar von Kindern in den Parkanlagen im Wiener Augarten anzutreffen, er deklamierte eigene Gedichte, erzählte Geschichten, die er in dramatisch eindrucksvollen Spielszenen improvisierte. Als die Kinder eigene familiäre Probleme erzählten, ermutigte er sie, diese Konflikte szenisch darzustellen. Dieses „Königreich der Kinder” stellte seinen frühesten Versuch dar, Erlebnisse und sozial belastende Situationen nicht zu erzählen, sondern in der Gruppe in improvisierten Spielaktionen umzusetzen. Als sich 1911 die Eltern von Elisabeth Bergner scheiden ließen, war auch die unbeschwerte Zeit mit ihrem Hauslehrer vorbei, die Wege trennten sich. Als Fünfzehnjährige tritt sie 1912 in die Wiener K. u. K. Akademie für Musik und darstellende Kunst ein. Eine ihrer Mitschülerinnen war Anna Höllering, mit der sie eine enge Freundschaft verband.

Aus München fragt sie 1921 in einem Brief an Albert Ehrenstein nach ihren Wiener Bekannten: „wie geht es Euch? Mir geht es trefflich, nur habe ich wahnsinnig zu tun. Wie geht es all Euren Hildepepis, Lamplbergers, Carlfridas und Morenodirsztays?” Die Bergner arbeitete stetig an ihrem Erfolg als Schauspielerin, übersiedelte 1922 nach Berlin, feierte Triumphe im Theaterimperium von Max Reinhardt. Obwohl Moreno Elisabeth Bergner als Aktivistin in seinem Stegreiftheater in den Jahren 1923 und 1294 nennt, konnte ihre Mitwirkung bisher nicht nachgewiesen werden.